Der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts. Johann Caspar Lavater

Der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts. Johann Caspar Lavater

Organisatoren
Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Franckesche Stiftungen zu Halle; Forschungsstiftung Johann Caspar Lavater, Zürich
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2019 - 28.09.2019
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Von
Daniel Keil, Freie Theologische Hochschule Gießen

Die interdisziplinäre Tagung beschäftigte sich aus verschiedenen fachlichen Perspektiven mit dem Leben und vielseitigen Werk Johann Caspar Lavaters (1741–1801) im Kontext seiner Zeit.

In ihrem öffentlichen Abendvortrag führte URSULA CAFLISCH-SCHNETZLER (Zürich) in die Erforschung Lavaters ein und bemängelte, dass er lange belächelt und vernachlässigt worden sei, was sich mit der seit 2001 entstehenden zehnbändigen Historisch-Kritischen Ausgabe ausgewählter Werke geändert habe. Zudem gab sie einen Überblick über Lavaters Leben, sein vielfältiges Wirken, sein facettenreiches Werk und seine zahlreichen persönlichen und brieflichen Kontakte. Sie wies in diesem Zusammenhang auf ein von ihr geleitetes aktuelles Forschungsprojekt zu Lavaters Korrespondenznetz in ganz Europa hin, das sich u. a. mit seinen über 20.000 Briefen auseinandersetzt.

Im ersten Themenschwerpunkt Literatur und Religion stellte SABINE GRUBER (Tübingen) zunächst dar, wie Lavater sein Geheimes Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst von 1771 schon mit dem Ziel der Veröffentlichung verfasste, um seinen Lesern ein Vorbild zur schonungslosen, individuellen Selbstbetrachtung und moralischen Besserung zu geben. Er schrieb damit ein Werk moralischer Erbauungsliteratur und prägte die Gattung des introspektiven (statt des traditionellen chronikalen) Tagebuchs.

DANIELA KOHLER (Bern) führte aus, wie Lavater seine Dichtung in den Dienst einer christozentrischen Religion und Frömmigkeit stellte. Für ihn erfolgte die Begründung der Religion nicht aus der Vernunft, sondern (im Sinne der pietistischen Bewegung und der Empfindsamkeit) aus dem Gefühl der Ergriffenheit vor und durch Gott. Dieses Ergriffensein von Gott habe Lavater in seiner Dichtung, insbesondere in seinen religiösen Dramen und Versepen, initiiert und illustriert.

BERND ROLING (Berlin) erläuterte Lavaters Vorstellung von einer postmortalen Körperlichkeit mit einem Fokus auf der Kommunikation im Himmel. Er führte aus, wie Lavater unter dem Einfluss Swedenborgs statische Himmelsvorstellungen der Scholastik überwand, indem er den auferstandenen Menschen auf Kommunikation angelegt und dessen Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeiten als bis ins Unendliche gesteigert verstand. Er gelangte so zu einer Himmelsvorstellung mit ständigen Informationsfortschritten und einer hochaktiven, uneingeschränkten Kommunikation von allgegenwärtigen engelhaften Wesen.

FRIEDEMANN STENGEL (Halle) stellte dar, wie sich Lavaters Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele zwischen Rationalismus, Empirismus und Empfindsamkeit herausbildete. Demnach lehnte Lavater wie Swedenborg die Vorstellung des Seelenschlafes unter Berufung auf telepathische Erlebnisse ab. Er vertrat eine positive Anthropologie und anthropozentrische Himmelsvorstellungen, die er auch unter Rückgriff auf Swedenborg entwickelte. Im Gegensatz zu vielen Aufklärungstheologen stand er allerdings für eine christozentrische Jenseitserwartung und die Hoffnung auf eine leibliche Auferstehung.

Im zweiten Themenschwerpunkt Physiognomik im Kontext führte HEINZ SCHOTT (Bonn) zunächst aus, wie Lavater seine Lehre von der Physiognomik (dem Zusammenhang des Äußeren eines Menschen mit seinen seelischen Eigenschaften) unter Rückgriff auf della Porta entwickelte und als Lesen der Hieroglyphensprache der Natur in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen religiös begründete. Er betonte, dass Lavater hier nicht in eine doktrinäre Physiognomik verfiel, sondern seine mit wissenschaftlichem Anspruch aufgestellten Kategorien zugleich wieder relativierte und die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen betonte.

ANNETTE GRACZYK (Berlin) erläuterte, dass sich in Lavaters Physiognomik die Vorstellung einer graduellen Metamorphose der Gesichtszüge vom Satanisch-Monströsen bis hin zum Göttlichen findet. Sie wies auf Darstellungen hin, in denen Lavater beim negativ belegten Frosch beginnt und über das Animalische hin zum Menschen fortschreitet (wobei schwarze Menschen als die niedersten gewertet werden) und dann weiter bis zu den Engeln und schließlich zum Gesicht Gottes. Der Mensch, so Lavater, stehe innerhalb dieser Stufenleiter schließlich als verdunkelte Gottesgestalt da.

SYLVAINE HÄNSEL (Münster) führte aus, wie Lavaters physiognomische Zeichnungen und die Porträtkunst des 18. Jahrhunderts zueinander im Gegensatz stehen. Während Lavater die Genauigkeit in der Abbildung der Natur betonte und dies durch eine vereinfachende Reduktion auf Silhouetten umsetzte, plädierte der Philosoph Johann Georg Sulzer dafür, mit künstlerischer Intuition die vorteilhaften Seiten des Porträtierten hervorzuheben und den Farben eine hohe Bedeutung beizumessen. Somit schlugen Lavater und die Porträtkunst unterschiedliche Richtungen ein, wenngleich Lavaters Ideen das genaue Beobachten auch für die Porträtkunst anregten.

DOROTHEA HORNEMANN (Halle/Saale) stellte dar, wie in der Herrnhuter Brüdergemeine seit den 1770er Jahren eine Offenheit für Physiognomik sowie das Sammeln von Schattenrissen und menschlichen Schädeln bestand und fragte nach dem Zusammenhang. Die umfangreiche Silhouettensammlung im Herrnhuter Unitätsarchiv verfolgt anscheinend nicht die gleichen physiognomischen Zwecke wie Lavaters Zeichnungen. Verhaftet im Freundschaftskult, bilden die Silhouetten mit dem Interesse am Äußeren des Menschen ein Zwischenglied zur Sammlung von Schädeln aus den Missionsgebieten, die im Kontext anthropologisch-naturkundlicher Studien zum Menschengeschlecht noch weiter zu untersuchen ist.

KARL BAIER (Wien) eröffnete den dritten Themenschwerpunkt Diskussionen und Diskurse. Er stellte Lavaters Offenheit für das Übernatürliche am Beispiel seiner positiven Einstellung gegenüber dem Exorzisten Johann Joseph Gaßner (1727–1779) dar, von dem er sich jedoch später lossagte. Lavater schloss sich schließlich den auf Franz Anton Mesmer (1734–1815) zurückgehenden Lehren des animalischen Magnetismus an und wurde selbst Magnetiseur. Als solcher ging er davon aus, Menschen mittels von Menschen ausgehender magnetischer Kraft heilen zu können, was er in Sitzungen (unter anderem bei seiner Frau) praktizierte, wobei Patienten auch in Trance fielen. Baier führte die aus Briefen Lavaters rekonstruierte Methode des Magnetisierens vor.

Einen Überblick über die von Verschwörungstheorien geprägten Konflikte zwischen der Berliner Aufklärung und dem Freimaurer J. A. Starck (1741–1816) gab MICHAEL VESPER (Bad Kreuznach). In Starcks Biographie verbinden sich Aufklärungsdenken und Theosophie, und er versteht die Kirche ähnlich einem Geheimbund als doppelbödig mit einem inneren, in die Mysterien eingeweihten Kreis der Gelehrten und einem vom moralischen Äußeren der Religion geprägten Volk. Er versuchte Lavater als Verbündeten für seine Konflikte mit gemeinsamen Widersachern in der Berliner Aufklärung zu gewinnen, dieser ließ sich jedoch nicht in diese Kämpfe hineinziehen.

GABRIELA LEHMANN-CARLI (Halle) beschrieb, wie durch den russischen Freimaurer Nicolai Karamsin (1766–1826) die Übersetzung und Rezeption von Lavaters Schriften unter den Moskauer Freimaurern vorangetrieben wurde. Diese hatten das Ziel, als ganzheitlich aufgeklärte Elite philanthropisch in die Gesellschaft hineinzuwirken, wofür besonders die Selbstbeobachtung aus Lavaters Geheimem Tagebuch gefragt war. Zudem bestand ein großes Interesse an seinen physiognomischen Schriften.

KARL-FRIEDRICH KEMPER (Sankt Augustin) führte aus, wie in der Beziehung und gegenseitigen Rezeption von Lavater und dem katholischen Theologen Johann Michael Sailer (1751–1832) gelebte Ökumene zum Ausdruck kam. Damit stieß Sailer von katholischer und Lavater von aufklärerischer Seite auf heftigen Widerstand. Kemper warf in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob die Unionisten tatsächlich als Gegenaufklärer oder doch als Aufklärer anzusehen seien.

ANETT LÜTTEKEN (Zürich) eröffnete den vierten Themenschwerpunkt Öffentlichkeit, Pädagogik und Politik mit einer Betrachtung Lavaters als Seelsorger und öffentliche Instanz, wobei sie eine Differenz zwischen dem von ausgefeilter Rhetorik und Strenge geprägten Auftreten als öffentliche Person und seiner direkten und offenen Art im persönlichen Umgang feststellte. Bei seinem öffentlichen Handeln sei ihm sowohl die gute Tat an sich als auch die Anerkennung dafür wichtig gewesen. Zudem hätten ihn seine enorme Menschenkenntnis und Präsenz in der Öffentlichkeit für politische Äußerungen prädestiniert.

Die philanthropisch geprägte Pädagogik Lavaters behandelte TILMAN HANNEMANN (Oldenburg). In ihrem Zentrum platzierte Hannemann das Motiv der Wiedergeburt jedes einzelnen Menschen, mit der das religiöse Ideal einer Gemeinschaft von vervollkommneten Individuen realisiert werden solle. Dabei zielte Lavaters emotional untersetzte moralische Didaktik auf die sinnliche Erfahrbarkeit des Vollkommenen ab, die zur Tugend motivieren sollte.

ANDREAS PEČAR (Halle/Saale) zeigte, dass Lavaters Kritik an der französischen „Befreiung“ der Schweiz vor allem darin begründet war, dass diese von außen mit Gewalt aufgezwungen worden war; inhaltlich stimmte Lavater mit der neuen Helvetischen Verfassung überein. Zudem sei seine Verteidigung der früheren „Goldenen Freiheit“, die er der von den Franzosen gebrachten „Freiheit der Hölle“ entgegensetzte, eine Beschönigung der vergangenen politischen Ordnung in der Schweiz gewesen, die nur einem kleinen Teil der Bevölkerung Freiheit gewährt und diese gewaltsam erhalten habe. Diese Parteilichkeit Lavaters mag auch in seiner familiären Verbundenheit mit den mächtigen Familien Zürichs begründet gewesen sein.

WOLFGANG HIRSCHMANN (Halle/Saale) stellte die Bedeutung der Schweizer Lieder heraus, die zu großen Teilen von Lavater verfasst und in der Schweiz positiv aufgenommen und stark rezipiert wurden. Sie idealisieren die ursprüngliche, rohe und tugendhafte Lebensweise der Vorväter. Rousseau schrieb ihnen eine kollektive Gedächtnisstiftung für die Schweizer zu.

Im letzten Themenschwerpunkt Wirkung als Rezeptionen, Rezeptionen als Wirkungen stellte BAPTISTE BAUMANN (Halle/Saale) zunächst das Verhältnis von Lavater und dem Philosophen Charles Bonnet (1720–1793) in ihren Überlegungen zu Wundern aus metaphysischer und theologischer Perspektive dar. Dabei wurde auch die Frage behandelt, ob Gott, wie Leibniz angenommen hatte, mit Wundern gemäß einer höheren Ordnung und Gesetzmäßigkeit in die physische Welt eingreift. Lavater ging von der Möglichkeit einer ständigen Durchbrechung der physikalischen Gesetzmäßigkeiten aus und wollte anhand von Wunderberichten einen Erfahrungsbeweis für das Christentum geben.

DOMINIQUE BOUREL (Paris) setzte sich mit dem schon von den Zeitgenossen heftig kritisierten angeblichen Versuch einer Bekehrung Moses Mendelssohns (1729–1786) zum Christentum auseinander, den Lavater durch die Widmung einer Schrift an den aufgeklärten Juden unternommen hatte. Bourel plädierte entgegen früherer Deutungen wieder dafür, Lavaters Widmung nicht nur als eine Aufforderung zum philosophischen Diskurs zu verstehen, sondern als eine Aufforderung, sich zu bekehren (wie es nach Lavater „Sokrates tun würde“), sofern ihn die Argumente überzeugten, oder aber eine öffentliche Widerlegung der christlichen Lehre und des christlichen Glaubens vorzunehmen.

CHRISTIAN EGER (Halle/Saale) stellte die Beziehung Lavaters zu dem Fürstenpaar Franz Leopold und Luise von Anhalt-Dessau dar, die später von manchen als eine Ausnutzung des Fürsten durch Lavater missverstanden wurde. Dagegen setzte Eger, dass die Beziehung beidseitig von Anfang an ein Nützlichkeitsverhältnis im Gewand einer Freundschaft gewesen sei, von dem aber der Fürst mehr profitiert habe als Lavater und das beendet wurde, als dessen Nutzen für das Fürstenpaar erloschen war.

JANA KITTELMANN (Halle/Saale) beleuchtete die Beziehung Lavaters zu Johann Georg Sulzer (1720–1779), der gemeinsam mit ihm reiste und ihn in Gelehrten- und Künstlerkreise einführte. Als Quellen zugrunde legte sie die nur teilweise erhaltene Korrespondenz und die Werke Sulzers. Den Briefen lassen sich sowohl wichtige biographische und schriftstellerische Stationen entnehmen als auch die theologische und die persönliche Entwicklung Lavaters und dessen Beziehung zu Sulzer, der sich schließlich von ihm distanzierte.

In der Schlussdiskussion wurde als Ergebnis der Betrachtung Lavaters in seinen Beziehungsgeflechten zwischen Aufklärung und Pietismus festgehalten, wie wichtig es ist, nicht nur Einzelpersonen zu untersuchen, sondern diese als Knotenpunkte von Diskussionen und Debatten in ihren Beziehungs- und Kommunikationsnetzen zu verstehen. Es zeigte sich, dass die Fronten zwischen Pietismus und Aufklärung weit weniger blockhaft und wesentlich durchlässiger waren als in der älteren Forschung oft behauptet, und dementsprechend auch in größerer fachlicher Kooperation erforscht werden sollten.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag

Ursula Caflisch-Schnetzler (Zürich): „Der ich gewißermaßen in einem Mittelpunkt stehe“. Johann Caspar Lavater als Individuum in seiner Zeit

I. Literatur und Religion

Sabine Gruber (Tübingen): Zwischen Selbstbefragung und Publizität. Lavaters Tagebuch

Daniela Kohler (Bern): Theologie und Dichtung. Lavaters religiöser Sturm und Drang

Bernd Roling (Berlin): Bewohner des Kristallpalastes. Lavater und die Sprache der Engel

Friedemann Stengel (Halle/Saale): Zwischen Empirie und Dichtung. Aussichten in die Ewigkeit und Unsterblichkeit der Seele

II. Physiognomik im Kontext

Heinz Schott (Bonn): Schattenrisse der Natur. Lavaters Physiognomik im Kontext von Naturphilosophie und Medizingeschichte

Annette Graczyk (Berlin): „Vom Frosch zu den Engeln“. Aufklärung und Esoterik in Lavaters Physiognomik

Sylvaine Hänsel (Münster): Lavaters Physiognomik im Kontext der Porträtkunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts

Dorothea Hornemann (Halle/Saale): Von Silhouetten und Schädeln. Lavater und die Herrnhuter

III. Diskussionen und Diskurse

Karl Baier (Wien): Lavater, Gassner und der Mesmerismus

Michael Vesper (Bad Kreuznach): Ambivalenzen in der Aufklärungsbewegung am Beispiel der Biographie des Theologen, theosophischen Freimaurers und politischen Publizisten J. A. Starck (1741–1816)

Gabriela Lehmann-Carli (Halle/Saale): Lavater, Karamsin und die Freimaurer in Moskau

Karl-Friedrich Kemper (Sankt Augustin): Katholische Aufklärung und Ökumene – Johann Michael Sailer und Johann Caspar Lavater

IV. Öffentlichkeit, Pädagogik und Politik

Anett Lütteken (Zürich): „Neü sey jeglichen Tag dein Bedürfnis nach ewigen Dingen!“ Johann Caspar Lavater als Seelsorger und öffentliche Instanz in politisch bewegten Zeiten

Tilman Hannemann (Oldenburg): Lavater als Pädagoge an der Waisenhauskirche (1770–1772)

Andreas Pečar (Halle/Saale): Republiken im Streit: Lavaters Aussagen zu Freiheit und Selbstbestimmung

Wolfgang Hirschmann (Halle/Saale): Lavaters Schweizer Lieder zwischen musikalischer Utopie und Nationalgeschichte

V. Wirkung als Rezeptionen, Rezeptionen als Wirkungen

Baptiste Baumann (Halle/Saale): Rezeption, Aneignung, Grenzüberschreitung? Lavater und Bonnet

Dominique Bourel (Paris): Lavater und Mendelssohn: Eine neue These?

Christian Eger (Halle/Saale): „Klapperschlange“ im Gartenreich – Lavaters kulturell-religiöse Affäre mit dem Fürstenpaar Franz und Luise von Anhalt-Dessau

Jana Kittelmann (Halle/Saale): „daß ich auch etwas lavaterisch denke“. Lavater als Phänomen und Ereignis in Korrespondenzen und Werken Johann Georg Sulzers

Schlussdiskussion